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Mein schlafloses Wochenende unter dem Regenbogen
”Gleðilega Hátið“, frohes Fest, wünschen sich Isländer zumeist an Ostern oder am Nationalfeiertag. Allerdings existiert neben diesen altbekannten Feiertagen noch ein weiterer Grund, diesen Wunsch noch fröhlicher als sonst auszusprechen: Reykjavik Gay Pride. Während solche Veranstaltungen in den USA nur unter hohen Sicherheitsvorkehrungen zur Verhinderung von Gewaltverbrechen stattfinden können (Quelle: Rev. Pat Bumgardner, Metropolitan Community Church, New York City) und in Deutschland nur von „Heteros die Party machen wollen“ besucht werden (Quelle: Online-Konversation mit einem offen bisexuellen Mädchen aus Deutschland), feiert in Island die schwul-lesbische Gemeinde und die ganze Stadt feiert mit. Zum ersten Gay Pride anno 1999 versammelten sich gerade mal 1.500 Personen im Stadtzentrum von Reykjavik- jetzt, sieben Jahre später, ist die Teilnehmerzahl auf 50.000 angestiegen. (!)
Ich wollte also einer von diesen 50.000 sein, die wahre Faszination kennen lernen, die hinter den begeisterten Berichten steht, und einfach nur mit der nördlichsten und exzentrischsten Hauptstadt der Welt jede Menge Spaß im Zeichen des Regenbogens haben.
Die Stunde Null. Ich bekomme mein VIP- Ticket für die Parties plus ein Survival-Paket mit den wichtigsten Ausrüstungs- gegenständen für die Pride-Veranstaltung: Einem Programm, einem Stadtplan, einem Gay Pride Armband, einer Trillerpfeife um ordentlich Lärm zu machen, und last but not least das Kennzeichen eines/r jeden treuen Teilnehmers/in: Der regenbogenfarbenen Blumengirlande. In den nächsten vier Tagen wird dieses Accessoire sich sanft an hunderte von Hälsen schmiegen, oder einen guten zum Motto der Feier passenden Haarschmuck für die Damenwelt abgeben. So gut ausgerüstet bereite ich mich auf ein schlafloses langes Wochenende vor.
10. August: Ein sehr bekanntes und kostenloses Angebot der Stadtbücherei sind die literarischen Spaziergänge. So wie ich das beim kurzen Hineinschnuppern mitbekam, werden sie auf Englisch abgehalten und richten sich hauptsächlich an Touristen, welche die reiche Literaturlandschaft ihres kleinen Gastlandes noch nicht kennen. Die Teilnehmer werden an Orte in und um die Innenstadt geführt, die irgendwie mit (auch weniger bekannten) Werken der isländischen Literatur in Verbindung stehen. Diesmal sind allerdings die isländischsprechenden Literaturfreude dran und entdecken etwas, von dem sie wahrscheinlich noch nicht allzu oft gehört haben. Die Literaturwissenschaftlerin Úlfhildur Dagsdóttir und der Schauspieler und Sänger Felix Bergsson laden ein zum allerersten schwul-lesbischen Literaturspaziergang. Obwohl im Programm eine falsche Anfangszeit angegeben war, zählt eine der Organisatorinnen kurz vor Beginn 44 Teilnehmer und mehr als 70(!) im Verlauf der Veranstaltung. Das Ziel dieses besonderen Literaturspaziergangs ist, “die Stadt heute abend ein Bisschen mehr andersrum zu gestalten” (sagt Úlfhildur) und dem Publikum einige Bars und andere Örtlichkeiten zu zeigen, die in isländischen schwul-lesbischen Erzählungen verkommen. Gerade auch in solchen Geschichten, die von heterosexuellen Autor/inn/en verfasst wurden, denn das Team will auch aufzeigen, wie Schwule und Lesben allgemein in der Literatur gesehen werden. “Das wird jetzt keine große Laufübung”, verspricht Úlfhildur – aber trotzdem wandern die 70 Leute fast zwei Stunden lang in Reykjavik herum, nonstop auf den Beinen und stets ganz Ohr, wenn der charismatische Felix Bergsson aus verschiedenen Romanen und Kurzgeschichten vorliest. Mit seinem Humor und seiner einzigartigen Fähigkeit, die Buchcharaktere mit der Stimme nachzuspielen haucht er ersten Dates und anderen kleinen aber einschneidenden Ereignissen Leben ein, genau an denjenigen Orten, wo sie nach dem Willen von Islands kreativen Köpfen passiert sein sollen. Es war, wie das Team erklärt, ziemlich schwierig, passende Orte zu finden – Bars und ähnliche Locations werden nur selten namentlich in den Büchern erwähnt. Nichtsdestotrotz gibt es sie überall- und auch wenn man sich nicht ganz sicher sein kann, ob der Autor genau DIESES Café gemeint hat, können wir uns alle gut vorstellen, wie es für die Romanhelden gewesen sein muss, sich dort zu treffen. Wir machen beim ehemaligen “22” (das jetzt einfach “Barinn,” Die Bar, heißt) und spüren geradezu das Erstaunen der männlichen Hauptfigur im berühmten “101 Reykjavik” (von Hallgrimur Helgason): Wie kann seine Mutter einfach so in diese Bar gehen, eine Frau namens Lola treffen und, im Alter von fast 60 Jahren, urplötzlich entscheiden, dass sie lesbisch ist? Wir stehen in einem Hinterhof bei einer Straße namens Lindargata, wo es keine augenscheinlichen Sehens- würdigkeiten außer einem mit Graffiti verzierten Haus gibt (wenn man es nicht weiß, kommt man nicht drauf dass dies früher das Versammlungszentrum vom örtlichen Schwulen- und Lesbenverein war), aber hier lernen wir, dass der international bekannte Krimiautor Arnaldur Indriðason ebenfalls eine leidenschaftliche lesbische Frau in seinem Werk vorkommen lässt. Das gediegene Hotel Borg ist der beste Ort, eine Geschichte vorzutragen, die in der Bar eben jenes Betriebes ihren Anfang nimmt- Felix Bergsson stellt sich erst mal genau vor die Tür mit dem Vermerk, dass „die Touristen ja nicht gerade jetzt rauskommen müssen“. Ich bin mit meinen Gehstöcken zwar immer etwas langsamer als der Rest und verliere manchmal den Anschluss an die Gruppe, aber Felix Bergsson wartet immer geduldig, bis alle seine Schäfchen wieder versammelt sind, und beginnt dann erst zu lesen. Ich bin von 8 bis 10 Uhr abends nonstop auf den Beinen, und mein Körper will oftmals nicht mehr weiter, aber mein Kopf schreit immer nach “mehr, mehr, mehr“. Er ist dem Charme der Literaten voll erlegen. Und jetzt, da ich in Reykjaviks regenbogenfarbige Geheimnisse zwischen den Buchseiten eingeweiht worden bin, denke ich langsam: Mission erfüllt. Úlfhildur und Felix haben die Stadt heute ein wenig anders herum gestaltet- bunt, fröhlich und nicht mehr so wie wir sie gewöhnt sind.
10 Uhr abends. Ich habe gerade mal Zeit, mich umzuziehen- denn jetzt kommt laut Gay Pride Organisationsteam die “Aufwärmrunde” für den Partymarathon im Zeichen des Regenbogens. Mein erster Besuch im Club NASA in Downtown Reykjavik. Friðrik Ómar and Regína Ósk, in Island junge aufstrebende Musiksternchen, dem internationalen Publikum eher noch verborgen, geben hier ein Grand-Prix-d’Eurovision-Konzert, covern dabei jeden nur denkbaren Schlager aus dem Wettbewerb. Natürlich nur, so lange sie die Originalsprache beherrschen; daher wählen sie aus Deutschland nur das äußerst sinnige “Wadde hadde dudde da”. Ich bin erstaunt, die Halle so leer zu sehen, obwohl ich NASA erst eine halbe Stunde nach Konzertbeginn erreiche- aber nachdem das Nachtleben von Reykjavik stets erst nach Mitternacht beginnt (nach eigener Erfahrung), füllt sich die Tanzfläche später zusehends. Friðrik Ómar and Regína Ósk, beide Mitte 20, halten lachend und tanzend Kontakt mit ihrem Publikum, widmen ihre Lieder Besuchern aus den jeweiligen Ländern, und fordern wieder und wieder alle zum Mittanzen auf. Beide Geschlechter in jeglicher Kombination lassen sich nicht zwei Mal bitten. Island ist vielleicht eine der “Eurovision-verrücktesten” Nationen überhaupt (zumindest erlebe ich das so, als Deutsche, in deren Urheimat meist nur Witze über das Event gerissen werden). Also gibt sich die ganze Halle dem Rhythmus von Songs wie “Viva la Diva” und “Waterloo” hin. Was für eine einmalige Art, meinen 25. Geburtstag zu feiern, der zufällig am selben Tag ist. Das einzige, was mich an diesem Abend wahnsinnig gemacht hat, war dass ich das neueste Siegerlied Hard Rock Halleluyah verpasste und mir von den anderen Gästen anhören durfte wie toll die Showband das vorgetragen hatteJ.
11. August: Formal beginnt das Gay Pride Festival mit einer Zeremonie im Theater Loftkastalinn (“Luftschloss”). Der Bürgermeister von Reykjavik, der das Fest mit einer feierlichen und doch humor- und liebevollen Ansprache eröffnet, betritt die Bühne mit einer der obgenannten Blumengirlanden um den Hals. Dies wirkt in der Tat sehr fröhlich und einzigartig auf seinem dunklen Anzug. Er gratuliert der schwul-lesbischen Gemeinde zu ihrem Ehrentag (Reaktion eines Zuschauers: Ein lautes “Takk sömuleiðis”, = danke gleichfalls!), freut sich über die wunderbare Regenbogen-Dekoration, die nun das Stadtbild dominiert… und berichtet, dass es im Parlament schon Überlegungen gäbe, dass die schwul-lesbische Gemeinde am besten mit dem Schmücken für den Nationalfeiertag betraut werden sollte (vom Publikum erntet er dafür lautes Jubeln und fröhliches Gelächter). In den folgenden drei Stunden gibt es ein buntes Panoptikum von Vorstellungen schwuler, lesbischer und solidarischer Künstler. Rósa Guðmundsdóttir, eine junge Sängerin die der Zeremonienmeister als einen Vulkan von den Westmännerinseln (vor der Küste Islands) bezeichnet, sorgt mit einigen Liebesliedern für romantische Stimmung. Die amerikanische Band Shitting Glitter wurde im Programm als “all-gay (…) electronic-laced un-pop” Band (kaum genau zu übersetzen: Eine Gruppe mit ausschließlich schwulen und lesbischen Mitgliedern und Electronic-Sound, der sich bewusst vom Pop abgrenzt) angekündigt und versprach sehr politische Lyrics. Leider kann man die Texte wegen einer total übersteuerten Anlage kaum verstehen. Nichtsdestotrotz transportieren Rhythmus, Melodien und die kunterbunte Bühnenshow (mit einer Sängerin, zwei männlichen Musikern und einem männlichen Tänzer in Cheerleader- Uniform) ihre ganz eigene fröhliche und exzentrische Message. Vielleicht die größte Attraktion des Abends sind dann Ruth und Vigdis, ein Travestie-Duo aus Norwegen. Zunächst erscheinen sie als alte Damen und loben Island und den dortigen Gay Pride mit gerührten Stimmen, aber bedauern im selben Moment, dass die Vorstellung heute Abend ausfallen müsse. Schock im Publikum! Ruth und Vigdis korrigieren ihre Ansage ganz schnell und verwöhnen die Menschen im Luftschlosstheater mit einer einstündigen Show. Sollte jetzt jemand auf die Idee kommen, den letzten Bus nach Hause zu nehmen, vergesst es! Die Komiker(innen?) verzaubern das ganze Theater mit ihrer glitzernden, vielseitigen und oftmals ziemlich sexy Performance. In einem Moment sind sie noch alte Omas, die Witze über ihre Gewichtszunahme wegen des guten isländischen Essens machen und traditionelle Zaubertricks vorführen. In der nächsten Minute verwandeln sie sich in Madonna, Cher und andere Popdivas und verzaubern oder verführen viel eher ihre Tänzer… die übrigens für eine Reporterin wie mich eine echte Augenweide darstellenJ. Sie tanzen und spielen stets wortlos mit Ruth und Vigdis und werden so zu stillen und ästhetischen Gegenpolen zu den einfach nur witzigen lauten “Frauen”, ergänzen die Performance so, dass sie ein künstlerisches Meisterwerk werden muss. Ganz jugendfrei ist das Meisterstück nicht (z.B. wegen einer SEHR plastischen Parodie auf Gruppensex zwischen drei Männern), aber die Jugend unter 18 ist (hoffentlich) um diese Uhrzeit schon im Bett, also macht es nichtsJ Eines der Highlights der Show ist sicherlich der Auftritt des isländischen Sternchens vom Grand Prix d’Eurovision, Silvia Night (nicht die echte, aber eine wunderbare Imitation, bei der das Publikum jubelnd und vor Lachen schreiend nach mehr verlangt). Die Schreckschraube und Glamour-Lady im exzentrischen Blumenkostüm (in diesem Fall selbstverständlich ein Glamour-Gentleman) unterbricht rüde ein träumerisches Liebeslied und jagt die Sängerin über die ganze Bühne. Die Romantikerin schreit und rennt hysterisch durch die Gegend, während “Silvia” sich unablässig ins Rampenlicht stellt und ihre Grand-Prix-Hymne „Congratulations“ singt. Ruth and Vigdis kann man in der Tat nur gratulieren- denn mit ihrer Hilfe lacht Reykjaviks Luftschloss-Theater ohne Ende.
Etwa um Mitternacht: Wer will jetzt ins Bett? Hoffentlich keiner. Die Nacht ist noch jung, und es warten noch zwei Tanzparties, eine für Frauen und eine für Männer. Die weibliche Fraktion feiert in einem geschmackvoll eingerichteten Kellerraum im Staatstheater. Alle Gäste haben die Chance auf genügend Bier, Wein, Musik und nette neue Kontakte. Eine Freundin sagte mir einmal, die Atmosphäre auf Schwulen- oder Lesbenparties „könne man nicht beschreiben“. Nun sehe ich selbst, wie einmalig sie ist. Besonders beeindruckend finde ich, wie selbstverständlich jede Frau in die Party integriert ist. Niemand fragt nach meiner Behinderung- und die Frage “Bist du lesbisch?“ wird nur einmal gestellt und schnell wieder vergessen. Viele Frauen stellen mir stolz ihre Gattinnen vor. Das ist auch so normal wie nur irgendwas. Ein Pärchen erzählt mir freudestrahlend, dass es am nächsten Tag mit Motorrollern bei der Parade dabei sein wird- so weiß ich, für wen ich morgen jubeln und pfeifen kann. Und dann genießen wir, beflügelt von “Girls just want to have fun” und anderen frauenorientierten Partyhits, einfach nur das Leben, wer auch immer wir sind- wen auch immer wir lieben. Es ist sozusagen für alle eine Feier der Einzigartigkeit.
12. August: Hoffentlich bin ich nicht zu müde von gestern, denn jetzt geht es los zur Gay Pride Parade. Es stellt sich schnell heraus, dass Leute, die den Bus in die Innenstadt genommen haben, erst mal noch ein Stück laufen müssen, bevor sie sich das bunte Treiben ansehen können. Die Busse können nämlich ihre vorgesehenen Haltestellen nicht mehr anfahren. Die schwul-lesbische Gemeinde von Reykjavik hat also bereits das erste bekannte System in der Stadt auf den Kopf gestellt- weitere werden an diesem besonderen Tag noch folgen. Die Wagen in der Parade erwecken ein einmaliges Spektrum von Ideen zum Leben, dutzende von Arten, seine Meinung zum Thema Anderssein zu sagen. Eine Gruppe junger Lesben tritt auf einem nachtschwarzen Wagen auf, in ebenso nachtschwarzen Kleidern und – weißen Spitzenhäubchen. Dicht dahinter folgen “Hell’s Sissies”, eine Gruppe älterer Herren in Lederkluft, Silberketten und allem möglichen anderen, das den Look eines unkonventionellen Rockers ausmacht. Ich verstehe die Aussage so: Wir werden uns nicht stereotypen Vorstellungen und Konventionen unterwerfen, und deswegen vielleicht Leute auf positive Weise erschrecken indem wir einfach unseren eigenen Weg gehen. Manch ein Wagen transportiert auch eine klar politische Message: Von einem blutroten Gefährt aus werden Flyer (in der gleichen Signalfarbe) verteilt: “Wussten Sie, dass Homosexuelle kein Blut spenden dürfen?” Aufklärung über diese offensichtlich nicht sehr bekannte Tatsache könnte ein neuer Anreiz für die Diskussion über allumfassende Gleichberechtigung für Homosexuelle und Lesben sein- besonders da Island erst kürzlich die Einführung neuer Gesetze feierte, die gleichgeschlechtlichen Paaren dieselben Rechte garantieren wie zweigeschlechtlichen- auf allen Ebenen, nur die kirchliche Heirat ist noch nicht erlaubt. Nach der Parade habe ich Gelegenheit zu einem Interview mit Kári Gunnarsson, einem Mitglied des Teams auf dem provozierenden Blutspendewagen. Die Aufzeichnung befindet sich unter dem Artikel.
Sehr bemerkenswert ist, wie sich absolut JEDER an diesem gigantischen Straßenfest beteiligt und wie der kunterbunte Strom alle mitreißt- von jungen Frauen mit Kinderwagen bis zu alten Herren. Manch einer sagt, dass das richtige Feeling erst aufkommt, wenn man nicht nur zuschaut, sondern mitmarschiert. Der Meinung bin ich auch. So lange ich kann, laufe ich neben dem Blutspendewagen her. Die Betonung liegt auf “so lange ich kann,” denn obwohl die Fahrzeuge sich nur in Schrittgeschwindigkeit voranbewegen, kommen Fußgänger oft nicht weiter. Die Straße ist einfach vollgestopft mit jubelnden Menschen…
Übrigens, wer noch kein Regenbogen-Accessoire für den großen Tag hat, kann es ohne weiteres bei den zahllosen fleißigen Helfern kaufen. Diese Freiwilligen tragen T-Shirts mit Aufschriften wie (bei Männern) „I’m not gay- my Dad is“ (“Ich bin nicht schwul – aber mein Papa schon”) oder (bei Frauen) “I have a boyfriend- so does my Dad” („Ich habe eine feste Beziehung mit einem Mann- mein Vater auch“). Sie schieben Einkaufswagen durch die Menge, randvoll mit vielfarbigen Gay-Pride-Armbändern, Regenbogenansteckern mit dem Wort “virding” (Anerkennung), dazu passende Regenschirme (keine schlechte Idee bei dem unberechenbaren isländischen Wetter), Regenbogen-Süßigkeiten, Trillerpfeifen und natürlich die schon fast obligatorischen Blumengirlanden. Bitte, nehmen Sie ein Souvenir mit und behalten Sie den 12. August 2006 in guter Erinnerung. Jeder Tag sollte Gay Pride (wörtlich übersetzt: “Schwulen- und Lesbenstolz”) sein- auf das, was man ist, sollte man jeden einzelnen Tag seines Lebens stolz sein. (Diese Botschaft wird in jedem Detail des Festes vermittelt, obwohl sie nie wörtlich genau so ausgesprochen wird.) Natürlich wird auf dem Open-air- Konzert nach der Parade auch das Lied gesungen, das für Schwule und Lesben weltweit zur Hymne geworden ist- “I am what I am”. Allerdings auf Isländisch, “Ég er sem ég er”, damit auch die ganze sturmumtoste Atlantikinsel weiß, worum es geht. Darüber hinaus bieten Friðrik Ómar und Regína Ósk, Shitting Glitter, ebenso wie Ruth und Vigdis, einen kleinen Eindruck von ihren Shows, für alle die bei den Parties der vergangenen Abende nicht dabei sein konnten.
Am späten Nachmittag versuche ich, mich etwas auszuruhen, denn der Tag ist noch lange nicht zu Ende. Abends lädt kein Geringerer als Paul Oscar zu seiner Party im NASA-Club ein. Für alle Nicht-Isländer: Paul Oscar ist ein DJ und Sänger, der für kurze Zeit internationale Aufmerksamkeit erhielt, als er 1997 für Island beim Grand Prix d’Eurovision antrat. Ansonsten ist er ein gefeierter Held in der isländischen Schwulenszene. Entsprechend strömen scheinbar alle Schwulen und Lesben von Reykjavik und ihre zahlreichen heterosexuellen Freunde um 11 Uhr abends ins NASA. (Fünf Stunden später fragt Paul einmal, ob wir nicht alle müde seien und nach Hause gehen wollten… die ganze Halle schreit selbstverständlich aus vollem Halse „Nein”.) In der enormen Warteschlange vor dem Club lassen sich gut neue Bekanntschaften schließen (Ich trinke aber nicht mit ihnen, die wahre Ekstase liegt im Feiern mit der fröhlichen Menschenmenge! Das Programm verspricht, dass der DJ einige Überraschungsgäste mitbringt, plus alle „gay party hits“ der letzten Jahre. Bleibt nur die Frage: Was ist ein „gay party hit“? Paul zeigt schnell, dass diese Bezeichnung offenbar auf jeden Dancefloor-Song angewendet werden kann, der einfach nur Spaß macht. Einer der Überraschungsgäste ist die Gewinnerin des isländischen Drag-Queen-Wettbewerbes 2006, “Aurora Borealis“. Ihre Shownummer ist eine Augenweide für männliche wie weibliche Besucher. Aurora singt Playback zu Bonnie Tylers I NEED A HERO und findet dabei noch locker Zeit, einen jungen Herrn zu entkleiden, der die Bühne mit Clark Kents Brille und Supermans Heldengewand betritt; noch dazu erscheinen sie und Superman Arm in Arm mit zwei sehr hübschen und sehr leicht bekleideten Tänzerinnen. Die Hundertschaften von Besuchern im NASA verbrauchen den vorhandenen Sauerstoff recht schnell, aber für KünstlerInnen wie Aurora Borealis nimmt man/frau gern die stickige Luft in Kauf. Für sein treues Publikum bringt der große Paul Oscar zwischen den Partyhits auch einige seiner eigenen Kreationen zum Vortrag, obwohl er behauptet, vor einer Weile seine Stimme verloren zu haben. Doch er muss wohl extra für den Gay Pride noch etwas davon übrig haben, denn er singt mit jeder Menge Energie- und seine Gäste jubeln ohne Ende…
13. August: Ausklingen lässt man den Gay Pride von Reykjavik mit einer “Regenbogenmesse” in der Hallgrimskirkja (der markanten Hauptkirche der Stadt). Reverent Pat Bumgardner von der Metropolitan Community Church in New York City hält eine sehr lebendige Predigt mit Bibelinterpretationen, welche den Angehötigen konventioneller Kirchen vermutlich noch nie zu Ohren gekommen sind: “Gott braucht uns nicht dazu, dass wir uns vermehren- er konnte für Abraham und Sara Kinder aus Steinen hervorbringen. Aber er braucht es, dass wir uns gegenseitig lieben und uns umeinander kümmern.” Mit diesem Gedanken erzählt die Pfarrerin die Geschichte von Ruth und Naomi nach, zwei Frauen, die zusammen lebten nachdem eine von ihnen ihren Mann verloren hatte. Die beiden gaben einander materielle und seelische Stütze, waren aber offensichtlich Zielscheiben und Opfer von Klatsch und Tratsch in ihrer Umgebung. Bumgardner berichtet auch von einer Situation im Neuen Testament, wo ein römischer Centurio Jesus um Hilfe für seinen kranken “intimate friend”, tief vertrauten Freund, bittet. Sie bietet eine Interpretation an, nach der dieser Freund im ursprünglichen wörtlichen Sinne der Lebenspartner des Centurios war, und gebraucht dies als Beispiel für die allumfassende Liebe Jesu Christi: “Er fragt nicht WIE BIST DU ÜBERHAUPT KRANK GEWORDEN- eine Frage, die man oft Menschen mit AIDS stellt”- er heilt den Mann einfach.
Trotzdem konfrontiert uns Bumgardners Predigt auch mit einer bitteren Realität weit weg von allumfassender christlicher Liebe. Sie berichtet von so genannten hate crimes (Verbrechen, die aus Hass an Homosexuellen und anderen gesellschaftlichen Minderheiten begangen werden) in den USA, Hinrichtungen junger schwuler Männer in anderen Ländern, den Problemen, welche Priester bekamen, weil sie ihren Segen für gleichgeschlechtliche Heiraten gaben (Bumgardners Kommentar: “Shouldn’t all weddings be gay?”) Trotz allem ist sie positiv überrascht, wie friedlich der Gay Pride in Reykjavik abläuft und wie alle Menschen in die Veranstaltung integriert werden; dieses Lob Bumgardners gilt übrigens auch für die allgemeine Situation der Schwulen und Lesben in Island. Ihre Botschaft an die kleine Insel: “Von denjenigen, denen viel gegeben ist, wird auch viel erwartet.” Der kleine aber moderne nordische Staat könnte ein gutes Vorbild für die Integration von Schwulen und Lesben in anderen Gesellschaften werden. Alles in allem erinnert Bumgardner die Gemeinde daran, wie viel noch getan werden muss, um komplette Gleichberechtigung für alle Menschen zu erreichen- aber sie gibt auch einen optimistischen, regenbogenfarbigen (der Regenbogen ist ein Symbol der Hoffnung!) Ausblick auf die Zukunft.
Soll ich meine Eindrücke vom Gay Pride 2006 zusammenfassen, kann ich nur sagen, es war eine einmalige Faszination. Zusammensein, die Verschiedenheit der Menschen feiern, einfach das Leben lieben, und das alles durch ein gigantisches Feuerwerk von „gay“ (=fröhlich und homosexuell) präsentierter Kunst. Ich nehme wohl an, ich würde nicht die ganze Nacht wach bleiben und fünf Seiten schreiben, wenn die ganze Sache mich nicht bewegt hätte?!
“Schwule Männer sind gutes Blut” -
Interview mit Kári Gunnarsson, Teilnehmer der Gay Parade mit dem Themenwagen von FSS (Vereinigung schwuler und lesbischer StudentInnen an der Universität Islands)
Euer Wagen transportiert eine sehr politische Message. Erzähl uns etwas darüber.
Ja, Hommar eru gæðablóð. Schwule Männer sind gutes Blut. Das bezieht sich auf die Tatsache, dass homosexuelle Männer kein Blut spenden dürfen. Wir fordern, dass wir in allen Vorschriften respektiert werden, und diese Klausel in den internationalen Vereinbarungen der Blutspendeorganisationen diskriminiert homosexuelle Männer. Sie fordert also, dass jede Organisation, die Blutkonserven zwischen verschiedenen Ländern austauschen will, homophobe Gesetze annimmt. Ich weiß selbst nicht, in welchem Kontext, welcher Organisation oder welcher Sprache diese Vereinbarungen getroffen wurden. Aber gerade wegen solcher Vorschriften, die weltweit in allen Institutionen vorherrschen, und zwar auf lokaler und globaler Ebene, wird die Unterdrückung weiter aufrecht erhalten. – Meine Gesichtsbemalung: Ich hatte mir zwei Tränen unter das eine Auge gemalt, und die waren unsichtbar. Für mich symbolisierte das mehr als Blut. Ich hatte eine blaue Träne und eine rote. Es ist allgemein bekannt, dass wenn ein Gangster in einem Bandenkrieg einen lieben Freund verliert, er sich eine Träne unters Auge tätowieren lässt, um seinen Verlust zu zeigen. Und durch diese erwähnten Vorschriften wird eine solche homophobische Kultur aufrechterhalten, die meine Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt ermordet.
Warum habt ihr gerade dieses Thema gewählt?
Ich war dieses Jahr nicht im Festkommittee, aber wir haben mit diesem Thema angefangen, als es vor zwei Jahren eine Blutspendeaktion in unserer Universität gab. Wir haben uns damals entschlossen, die Initiative mit Flyern zu unterstützen, auf denen (so weit ich mich erinnere) stand: „Ich bin schwul und darf kein Blut spenden, würdest du für mich Blut spenden?” Aber das stand da natürlich alles auf Isländisch. Letztes Jahr haben wir dann aktiv eine Entscheidung getroffen –gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen aktiver und passiver Entscheidung? – Auf jeden Fall haben wir entschieden, das Thema mit der Blutspendeaktion fallen zu lassen, denn es wurde über eine Zunahme an AIDS-Neuinfektionen bei jungen Schwulen berichtet, besonders in der Bareback- Bewegung (das bedeutet, beim Oral- und Analsex bewusst keine Kondome zu verwenden) in Osteuropa und Skandinavien. Ich glaube ja selbst, der Grund für dieses Risikoverhalten ist, dass die soziokulturelle Umgebung diese armen Leute nicht über ein gesundes schwules Sexualleben aufgeklärt hat, also über Verhaltensweisen mit niedrigem Risiko. Dieses Versagen rührt von erzwungenen Vorschriften und Gesetzen her, von der Kolonialerfahrung aus der Vergangenheit. Wir müssen eine Gesellschaft der Einbindung aufbauen, wo jeder mit seiner eigenen Realität ernst genommen wird, wenn wir das Risikoverhalten reduzieren wollen.
Ich habe FSS als eine Vereinigung kennen gelernt, die sowohl homo- als auch heterosexuellen StudentInnen Information und Kameradschaft bietet. Plant FSS noch mehr Aktionen für die breite Öffentlichkeit, wie diesen Themenwagen, oder wurde das nur für Gay Pride gemacht?
Das weiß ich nicht. Ich gehöre nicht mehr zum Vorstand. Aber wir haben etwas Programm für den Welt- AIDS-Tag und wir haben jedes Jahr einen Paradewagen und noch ein paar andere Sachen, schau doch mal auf unsere Homepage www.gay.hi.is . Wir sind oft bei Konferenzen in ganz Europa dabei. Ich war und bin immer noch ein Mitglied unserer internationalen Gruppe, und wir haben diese Ideen immer informell exportiert, indem wir Erfahrungen ausgetauscht, uns gegenseitig Stärke und Hoffnung gegeben haben. (Kári empfiehlt die Website www.lesbigay.eu)
Hast du bzw. habt ihr irgendwelche Rückmeldungen bekommen? Hofft ihr oder seht ihr schon, dass die Information, die ihr den Leuten gegeben habt, die Diskussion über andere Aspekte der Gleichberechtigung für Schwule und Lesben anregt?
Ja.
Was für Rückmeldungen waren das denn?
Grinst: Ich habe Feedback von dir bekommen und vom Fernsehsender Syn. Das Feedback auf Syn wird im Oktober gezeigt und ich darf nicht drüber reden. Ich habe mich vertraglich zur Diskretion verpflichtet.
Wie hast du dich gefühlt, als du oben auf dem Wagen standest?
Es war ein schönes Gefühl- irgendwie spirituell. Wenn man eine der drei Flaggen schwenkt: Die Regenbogenflagge, die Bi-Flagge (lila, rosa und schwarz) und unsere Regionalflagge.
Was hat dieser Gay Pride speziell dir bedeutet?
Dieser Gay Pride ist etwas Besonderes für mich, weil er die isländische Kultur der Einbindung repräsentiert, Verschiedenheit feiert und die Leute dazu bringt, sich in einem positiven Dialog mit diesen Themen auseinander zu setzen.
Danke für das Interview.
© Friederike Hesselmann
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